Schicksalswahl in der Türkei
Schicksalswahl in der Türkei: Nach 20 Jahren an der Macht muss Präsident Recep Tayyip Erdogan um seine Wiederwahl bangen. Sollte er die Präsidentschaftswahl gegen den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu am Sonntag verlieren, würde in der Türkei eine neue Ära beginnen. Die Opposition will bei einem Wahlsieg mit dem zunehmend autoritären Kurs von Erdogan brechen und zur Demokratie zurückkehren.
Der 69-jährige Erdogan regiert das Land mit seinen 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern seit zwei Jahrzehnten; seit 2003 als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahl wurde daher von vielen Menschen als Abstimmung für oder gegen Erdogan und seine islamisch-konservative AKP wahrgenommen.
"Sie sind seit meiner Geburt an der Macht. Ich will jetzt Veränderung", sagte die 19-jährige Erstwählerin Sila, nachdem sie in einem Wahllokal in der Hauptstadt Ankara ihre Stimme abgegeben hatte. Vor vielen Wahllokalen in Ankara und Istanbul bildeten sich schon vor der Öffnung lange Schlangen. Beobachter rechnen mit einer hohen Wahlbeteiligung.
Neuer Präsident wird, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommt. Schafft dies keiner der Kandidaten, treten die zwei Erstplatzierten in zwei Wochen in einer Stichwahl gegeneinander an.
Für Erdogan, der noch nie in eine Stichwahl musste, könnte es diesmal eng werden. Sein Widersacher Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen CHP hat mit einem Bündnis aus sechs Parteien fast die komplette Opposition hinter sich vereint und lag in den meisten Umfragen vorne.
"Wir alle haben die Demokratie vermisst", sagte der 74-jährige Kilicdaroglu, nachdem er in einem Wahllokal in Ankara seine Stimme abgegeben hatte. Endlich solle es in der Türkei wieder "Frühling" werden. Erdogan sagte nach der Stimmabgabe in Istanbul, er hoffe auf ein gutes Wahlergebnis für die Zukunft der Türkei. "Ich hoffe bei Gott, dass das Ergebnis nach Abschluss der Auszählung heute Abend gut für die Zukunft unseres Landes und die türkische Demokratie ist", sagte der 69-Jährige.
Erdogan, dessen Wählerbasis zu einem großen Teil aus religiös-konservativen und nationalistischen Wählern besteht, hatte im Wahlkampf stark auf religiöse Themen und Kulturkampf gesetzt. Die Opposition bezeichnete er als "Pro-LGBT-Lobby" und warf ihr vor, von verbotenen kurdischen Gruppen unterstützt und vom Westen finanziert zu werden.
Beobachter sahen in der schrillen Rhetorik einen Versuch, von der schwersten Wirtschaftskrise seit Erdogans Amtsantritt abzulenken. Auch die katastrophalen Folgen des Erdbebens im Februar mit mehr als 50.000 Toten in der Türkei und Syrien lasten viele Menschen Erdogan an.
Kilicdaroglu will der Türkei im Falle eines Wahlsiegs nach eigenen Worten die "Demokratie wiederbringen" und das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abschaffen, das er als "Ein-Mann-Regime" kritisiert. Künftig soll wieder das Parlament den Regierungschef wählen, die Amtszeit des Präsidenten soll auf einmalig sieben Jahre begrenzt werden.
Die rund 64 Millionen Wahlberechtigten können noch bis 17.00 Uhr Ortszeit (16.00 Uhr MESZ) ihre Stimmen abgeben. In der Türkei gibt es keine Nachwahlbefragungen, die Stimmen werden in der Regel aber schnell ausgezählt. Nach Schließung der Wahllokale gilt zunächst eine Nachrichtensperre, die aber spätestens nach vier Stunden aufgehoben wird.
M.Vecchiarelli--LDdC